Virtuelle Hauptversammlung (AktG)

Das Bundesministerium der Justiz hat am 9. Februar 2022 interessierte Verbände dazu eingeladen, bis zum 11. März 2022 eine Stellungnahme zum „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften“ zu machen. (Aktenzeichen: III A 2 35022#00001#0001)

Unter dem 10. Februar 2022 hat das BMJ eine zusammenfassende Stellungnahme mit einer Erklärung des Bundesministers Dr. Marco Buschmann abgegeben.

Das ist die Stellungnahme der Verbraucherzentrale für Kapitalanleger e.V. (VzfK) (Download hier) :

1. Ausgangspunkt

Die aktienrechtliche Hauptversammlung stellt für die nicht in den Organen vertretenen Aktionäre die einzige Gelegenheit dar, um sich mit dem Management auszutauschen. Sie sind auf belastbare Informationen für ihre Anlageentscheidungen angewiesen. Daher stellen justiziable Informationen und Diskussionskultur auch keine Gegensätze dar.

Die technische Entwicklung eröffnet neue Möglichkeiten für die Praxis der Hauptversammlung. Die virtuelle Hauptversammlung ermöglicht aber keinen persönlichen Austausch und Begegnungen mit anderen Aktionären bzw. der Gesellschaft. Daher spricht alles dafür, sich vor allem Gedanken über hybride Veranstaltungen zu machen, also Präsenzveranstaltungen mit virtuellen Teilnahmemöglichkeiten.

Angesichts der vielfachen strukturellen Asymmetrien darf der „technische Fortschritt“ nicht dazu genutzt werden, um die Teilnahmerecht und den Rechtsschutz der nicht in den Organen vertretenen Aktionäre noch weiter zu reduzieren. Die Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung darf auch keine „Flucht vor den Aktionären“ in das Internet ermöglichen.

2. Präsenzhauptversammlung durchsetzen

In jeder Aktiengesellschaft bestehen vielfache strukturelle Asymmetrien zwischen den beiden Aktionärsgruppen:

  • Die unternehmerisch investierten Aktionäre sind auch in den Organen vertreten und können – gegebenenfalls auch in der Hauptversammlung – die wesentlichen Entscheidungen herbeiführen. Sie bestimmen auch mit der Qualität der erteilten Regelinformationen und anlassbezogenen Informationen die Wertverhältnisse sowie die Reichweite ihrer eigenen rechtlichen Kontrolle.
  • Die außenstehenden Aktionäre müssen sich auf die Vollständigkeit und Richtigkeit dieser Informationen verlassen können. Sie haben keinen eigenen Informationsanspruch wie zum Beispiel aus § 166 HGB.
  • Letztlich liegt es – nicht justiziabel – in der Hand der „Großaktionäre“ und ihrer Verwaltungen, das strukturelle Informationsgefälle zu nivellieren.

Gerade die Bewältigung von Krisen (z.B. Finanzkrise oder Dieselgate), aber auch der besondere Transparenzbedarf wie z.B. bei Wirecard lassen eine Reduzierung auf ausschließlich virtuelle Versammlungen nicht zu. Hier kommt es auch auf persönliche Eindrücke und Begegnungen mit anderen Aktionären an. Nur so kann eine umfassende Vertrauens- bzw. Entscheidungsgrundlage für die außenstehenden Investitionsentscheidungen entstehen.

Auch am „Neuen Markt“ dürfte es viele Gesellschaften gegeben haben, die keine persönlichen Begegnungen mit ihren Aktionären oder der Presse gewollt hätten. Eine „Flucht in das Internet“ darf aber nicht ermöglicht werden. Das dient auch dem Schutz vor betrügerischen Geschäftsmodellen.

Vorschlag 1:  Im Rahmen des § 122 Abs. 2 AktG müssen Aktionäre die Durchführung einer Präsenzhauptversammlung oder hybriden Hauptversammlung durchsetzen können.

3. Diskurs und technologische Weiterentwicklung

Der Gesetzentwurf reflektiert die technologische Weiterentwicklung sowie die bereits damit gewonnenen Erfahrungen. Es ist richtig, die Informations- und Entscheidungsprozesse vorzuverlagern und die Versammlung zu entzerren.

Es stellt sich dennoch die Frage, wie der begrenzte Zeitrahmen für einen Diskurs zwischen Vorstand und Aufsichtsrat mit den außenstehenden Aktionären noch besser genutzt werden kann. Dabei kann man überlegen, welche Informationen über das Internet allen Aktionären oder nur den angemeldeten Aktionären übermittelt werden. Nach wie vor bestehen die folgenden zeitlichen Einsparungspotentiale:

  • Die Fragen lassen sich bereits vor der Hauptversammlung beantworten.
  • Die Aussprache lässt sich dann auf Nachfragen und weiteren tagesaktuellen Klärungsbedarf reduzieren.
  • Es muss aber weiterhin möglich bleiben, in der Hauptversammlung Reden zu halten und weitere Fragen sowie Anträge zu stellen.

Vor allem bei komplexen Hauptversammlungen wie zum Beispiel zum Haftungsvergleich bei der Volkswagen AG oder den „Kapitalmaßnahmen“ bei der Rocket Internet SE wird so viel Zeit für die eigentliche Aussprache gewonnen.

Vorschlag 2:  Technische Möglichkeiten im Vorfeld der Hauptversammlung nutzen

4. Strukturelles Informationsgefälle nivellieren

Der Informationsbedarf der Aktionäre lässt sich nicht auf die gesetzliche Regelinformationen, anlassbezogene Informationen und die Hauptversammlung reduzieren.

  • Die Richtigkeit und Vollständigkeit der auf der Hauptversammlung erteilten Informationen steht gegenwärtig nicht umfassend auf dem rechtlichen Prüfstand. Die Rechtsprechung stellt hier auf eine „Erkennbarkeit“ der Mängel durch die Hauptversammlung ab.
  • Die im Schrifttum immer wieder beschworene Gefahr, dass schon geringe Informationsmängel zu einer Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit führen können, findet keine empirische Grundlage.
  • Auch das Sanktionssystem für z.B. fehlerhafte Regelinformationen gewährt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit.

Die Aufarbeitung der vielfältigen Informationsdefizite zum Geschäftsmodell der Wirecard AG zeigt den Handlungsbedarf. Außerdem darf eine zurückhaltende Informationspolitik nicht die Reichweite einer gerichtlichen Kontrolle reduzieren.

Vorschlag 3: 

  • Im Prüfungsmaßstab der Beschlussmangelkontrolle sowie im Auskunftserteilungsverfahren ist auf die tatsächliche Vollständigkeit und Richtigkeit abzustellen.
  • Falls keine Möglichkeit für Nachfragen mehr besteht, steigen damit die Anforderungen an die Qualität der Antworten.
  • Der Anspruch auf vollständige / richtige Informationen ist rechtlich zu stärken.

5. Gleichbehandlung auch bei Informationen

Wie bereits zuvor dargestellt, gibt es in jeder Publikumsgesellschaft zwei Aktionärsgruppen – unternehmerisch investierte Aktionäre und Finanzinvestoren. Für Privilegierungen von größeren Einzelaktionären aus dem Streubesitz gibt es keine faktische oder gesetzliche Grundlage.

Vielfach tauschen sich größere Aktionäre / Fondsgesellschaften laufend mit Vorstand und Aufsichtsrat aus. Dabei erhalten diese Aktionäre weitere Informationen. Das aktienrechtliche Schrifttum sieht darin aber keine Ungleichbehandlung, wenn es um größere Beteiligungen geht. Dafür gibt es keine gesetzliche Grundlage:

  • Die gegenwärtige Praxis sowie die sie tragende Meinung im Schrifttum erklärt nicht, wie hier eine Abgrenzung zu Insiderinformationen erfolgen soll.
  • Auch das Aktienrecht kennt im Beschlussmängelrecht oder Informationsanspruch kein Quorum oder andere Ansatzpunkte für eine Ungleichbehandlung. Das gilt auch für den in §§ 53a, 131 Abs. 4 Satz 1 AktG kodifizierten Gleichbehandlungsgrundsatz.
  • Alle Sonderfälle sind kodifiziert. Beispiele sind:
    • Im Vorfeld von kompensationspflichtigen Strukturmaßnahmen ergibt sich zum Beispiel aus § 327b Abs. 1 Satz 2 AktG ein Informationsanspruch.
    • Konzernunternehmen sind nach § 294 Abs. 3 HGB zu Angaben verpflichtet.

Vorschlag 4:  Vorstand und Aufsichtsrat sollten in der Bekanntmachung der Einladung zur Hauptversammlung allen Aktionären einen Zugang zu den Informationen anbieten, die sie zum Beispiel in „Informationsgesprächen“ oder „Road Shows“ anderen nicht in den Organen oder anders berechtigten Aktionären erteilt haben. Soweit diese Informationen schon im Internet übermittelt werden, genügt eine Vollständigkeitserklärung.

6. Zeitrahmen der Hauptversammlung

Langfristige Investitionsstrategien hängen von umfassenden Analysen und gefestigten Einschätzungen ab. Das relativiert auch den Tag der Hauptversammlung. So zeigen Seibt / Danwerth unter dem Schlagwort „Das Vorfeld ist das Hauptfeld“ in der AG 2021, 369 auf, dass zum Beispiel Stimmrechtsberater ihre Empfehlungen deutlich vor der Hauptversammlung aussprechen. Die Stimmabgaben erfolgen dann mehr als zehn Tage vor der Hauptversammlung.

Das bedeutet aber nicht, dass der Tag der Hauptversammlung als Stichtag für die Richtigkeit und Vollständigkeit von Informationen aufzugeben ist. Das gilt nicht nur für die Ermittlung einer Kompensation.

Vorschlag 5:  Alle in diesem Papier unterbreiteten Vorschläge für weitere Informationen beziehen sich auf einen Zeitraum, der frühestens mit der Bekanntmachung der Einladung beginnt. Soweit es um Fragen und Antworten geht, sollte das Zeitfenster für den virtuellen Diskurs frühestens fünf Tage vor der eigentlichen Hauptversammlung beginnen.

7. Technische Durchführung

Die bisherige Rechtsentwicklung sowie der Gesetzentwurf klammern die technische Durchführung aus dem Rechtsrahmen aus. Das lassen die verfassungsmäßigen Gewährleistungen zum Justizgewährleistungsanspruch und Aktieneigentum nicht zu.

Bei technischen Störungen in der Sphäre der Gesellschaft greifen die Grundsätze zum rechtswidrig nicht zugelassenen Aktionär aus § 245 Nr. 2 AktG. Bei erkennbaren technischen Störungen ist es ohne weiteres möglich, die Hauptversammlung zu unterbrechen.

Vorschlag 6: 

  • Der Notar hat sich als „Zeuge des Handelsregisters“ bewährt.
  • Die Qualität der technischen Durchführung lässt sich in seine gesetzlichen Wahrnehmungspflichten aufnehmen. Dazu kann er selber wie ein Aktionär die Hauptversammlung über sein eigenes Gerät verfolgen.
  • Nach Beendigung der Hauptversammlung erhält er von dem Verantwortlichen für die technische Durchführung einen Bericht über etwaige Störungen.

8. Teilnehmerverzeichnis

Das Teilnehmerverzeichnis enthält nach § 129 Abs. 1 AktG die erschienenen und die vertretenen Aktionäre. Bei virtuellen Hauptversammlungen lassen sich mehr Aktionäre als bei Präsenzhauptversammlungen vertreten. Damit ergibt sich aus dem Teilnehmerverzeichnis nicht mehr, wer an der Hauptversammlung teilgenommen hat.

Vorschlag 7:  Namentliche Nennung auch der vertretenen Aktionäre im Teilnehmerverzeichnis

9. Übersetzung für ausländische Aktionäre

Bei vielen Gesellschaften kommt die größte Aktionärsgruppe aus dem Ausland. Daher bietet sich für die virtuelle Versammlung eine Übersetzung wenigstens in die englische Sprache an.

Vorschlag 8:  Größenabhängige Rechtspflicht z.B. für regulierten Markt oder in den Zulassungsfolgepflichten für Übersetzung in die Sprachen der größten ausländischen Aktionärsgruppen.