Der Reformbedarf im Kollektiven Rechtsschutz liegt auf der Hand:
Vor allem die Dauer der „Telekom-Klagen“ zeigt: Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) hat sich nicht bewährt. Die Feststellungsklage kommt in der Gerichtspraxis kaum vor. Die immer wieder beobachteten überlangen Verfahrensdauern zeigen den Bedarf, die Leistungsklage in den kollektiven Rechtsschutz aufzunehmen. So haben zwar nach 22 Jahren im November 2022 mehr als 60 Prozent der Kläger den Vergleichsvorschlag angenommen. Es dürften aber noch einmal Jahrzehnte vergehen, bis die verbliebenen etwa 9.000 Klagen in Einzelverfahren beendet sind. In den USA fanden alle „Telekom-Klagen“ Anfang 2005 im Sammelklageverfahren eine vergleichsweise Beendigung in der ersten Instanz. In beiden Ländern ging es um ähnliche Schadenssummen. Die jahrzehntelangen Verfahren haben aber in Deutschland vermeidbare, erhebliche Verfahrenskosten ausgelöst.
Entsprechendes gilt für Musterfeststellungsklage nach §§ 606 ff. ZPO. Zudem hat sich die Verbandsklage nicht bewährt, wie die Anzahl der Verfahren zeigt. Zudem überzeugt die Quote (15 % des Kaufpreises) des Vergleichs in den Dieselgate-Klagen des vzbv gegen die Volkswagen AG nicht.
Es spricht einiges dafür, beide Musterfeststellungsklagen umfassend zu überdenken. Für die wesentlichen Kritikpunkte verweisen wir auf unsere Sonderseite www.kollektiverrechtsschutz.de Zwei wesentliche Punkte vorab:
- Die Verbandsklage ist ein Fremdkörper im Zivilrecht. Nur in besonders gelagerten Fällen wie z.B. Geschäftsfähigkeit nach §§ 104 ff. BGB, Vormundschaft nach §§ 1773 ff. BGB, Betreuung nach §§ 1896 ff. BGB oder Pflegschaft nach §§ 1909 ff. BGB ist es möglich, einen Anspruchsinhaber von der Rechtausübung zu trennen. Es gibt aber keinen sachlichen Grund, die zivilrechtliche Rechtsaufübung und sogar Verfahrensführung in die Hände eines Verbands zu legen.
- Ohne Leistungsklage tritt keine nachhaltige Justizentlastung ein. Nach jahrelangen Feststellungsklagen bedeutet es keine effektive Rechtsverfolgung, wenn nun noch einmal Jahre eine Leistungsklage gesteckt werden müssen.
Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) 2023 / 2024
Hier geht es zur Stellungnahme der VzfK für das BMJ sowie zu unserer Pressemitteilung und zu unserer Sonderseite mit weiteren Informationen zum Kollektiven Rechtsschutz. Das ist unser Buch „Kollektiver Rechtsschutz – ein Memorandum der Praxis„
Das Bundesministerium der Justiz hat am 28. Dezember 2023 einen Referentenentwurf zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) veröffentlicht. Der Bundesminister der Justiz, Dr. Marco Buschmann, erwartet, dass die „Anleger künftig schneller zu ihrem Recht kommen und die Verfahren für die Gerichte leichter handhabbar werden.“
Zu diesem Entwurf haben neben der Verbraucherzentrale für Kapitalanleger e.V. (VzfK), auch der Aktionsbund Aktiver Anlegerschutz e.V., GSC-Research GmbH, die Initiative Minderheitsaktionäre e.V., Schutzgemeinschaft für Bankkunden / Kapitalanleger / Versicherungsnehmer e.V. und die SdK Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. eine Stellungnahme eingereicht.
Auch dieser Entwurf entspricht weder den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag, noch den Vorgaben des Bundesministers für Justiz Ministers Dr. Marco Buschmann in der Pressemitteilung vom 28. Dezember 2023:
- Das Feststellungsverfahren und die nachfolgende Leistungsklage führen auch weiterhin zu „überlangen Verfahrensdauern„. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder feststellt, dass überlange Verfahrensdauern das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt.
- So tritt auch keine Justizentlastung ein. Die bei den „Telekom-Klagen“ anstehenden tausende Leistungsklagen werden das Landgericht Frankfurt in den nächsten zehn Jahren noch erheblich belasten.
Der Entwurf für eine Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz reflektiert nicht die folgenden wesentlichen Diskussionsbeiträge der Fachwelt:
72. Deutscher Juristentag (DJT) in Leipzig, 26. bis 28. September 2018
Die Abteilung Verfahrensrecht hat sich unter dem Thema „Sammelklagen, Gruppenklagen, Verbandsklagen – Bedarf es neuer Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes im Zivilprozess?“ umfassend mit dem kollektiven Rechtsschutz befasst. Zwei Beschlüsse betreffen die Musterfeststellungsklage (Seite 7 im Heft mit den Beschlussfassungen):
Bei diesen und weiteren Beschlüssen des DJT ging es auch um eine effektive Justizentlastung. Der nun vorgelegte Entwurf verkürzt zwar Fristen. Das muss aber nicht zu einer Verfahrensverkürzung führen. Dagegen hätte die Einführung einer Leistungsklage den Justizaufwand wesentlich reduziert. Außerdem fehlen präventive Elemente. Diese Ziele lassen sich mit geringem prozessualen Aufwand erreichen:
- Enden zum Beispiel die Antragsfrist und die Verjährung erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens, entfällt damit die Basis für Ermüdungs- und Verzögerungsstrategien.
- Außerdem spricht alles dafür, die Leistungsklage in den Mittelpunkt dieser Verfahrensart zu stellen. Nur so lässt sich die Justiz dauerhaft entlasten. Andernfalls müssen alle Verfahren ein zweites Mal durchgeführt werden.
Deutscher Bundestag, Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz am 9. September 2020
Bei einem vorangegangenen Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des KapMuG hat der „Rechtsausschuss“ des Deutsche Bundestags bei einer öffentlichen Anhörung am 9. September 2020 mehrere Sachverständige befragt. Die bei dieser Gelegenheit abgegebenen Einschätzungen und Vorschläge sowie die zugrundeliegenden Annahmen und Erwartungen hätten im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens erneut reflektiert und überprüft werden können.
Erklärung der Präsidentinnen und Präsidenten der großen Landgerichte in Deutschland, 21. September 2021
Nach einer gemeinsamen Tagung benennt diese Erklärung mehrere Bereiche mit Handlungsbedarf, um die Gerichte in Deutschland zukunftsfähig zu machen. Zum kollektiven Rechtsschutz heißt es in der Erklärung:
Der vorliegende Referenten-Entwurf beschränkt sich auf rechtstechnische Einzelfragen. Er reflektiert nicht die Erkenntnisse und Vorschläge der Landgerichte als betroffener Praktiker. Er enthält keine neuen „Instrumente“ sondern beschränkt sich auf einzelne „Reparaturen“.
Koalitionsvertrag 2021 bis 2025 vom 7. Dezember 2021
Aus dem Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode ergeben sich mehrere Vorgaben für dieses Gesetzgebungsverfahren. Sie gehen deutlich über die nun vorgelegten rein rechtstechnischen Modifizierungen hinaus.
- Der Abschnitt „Justiz“ sieht einen Ausbau des kollektiven Rechtsschutzes vor. Danach sollen „bestehende Instrumente“ wie zum Beispiel nach dem KapMuG modernisiert und der Bedarf für weitere geprüft werden (Fassung der SPD, Seite 84):
„Wir bauen den kollektiven Rechtsschutz aus. Bestehende Instrumente wie z. B. nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz modernisieren wir und prüfen den Bedarf für weitere. Die EU-Verbandsklagerichtlinie setzen wir anwenderfreundlich und in Fortentwicklung der Musterfeststellungsklage um und eröffnen auch kleinen Unternehmen diese Klagemöglichkeiten. An den bewährten Anforderungen an klageberechtige Verbände halten wir fest. Wir ermöglichen englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten.„
- Wir bauen den kollektiven Rechtsschutz aus. Bestehende Instrumente wie z. B. nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz modernisieren wir und prüfen den Bedarf für weitere. Die EU-Verbandsklagerichtlinie setzen wir anwenderfreundlich und in Fortentwicklung der Musterfeststellungsklage um und eröffnen auch kleinen Unternehmen diese Klagemöglichkeiten. An den bewährten Anforderungen an klageberechtige Verbände halten wir fest. Wir ermöglichen englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten.
- Die Überlegungen zur Altersvorsoge sehen auch einen Ausbau der privaten Altersvorsorge vor (Fassung der SPD, Seite 58, siehe auch oben I.5.).
- Auch der finanzielle Verbraucherschutz erhält einen hohen Stellenwert (Fassung der SPD, Seite 89).
Zur Modernisierung des KapMuG bietet es sich immer noch an, über Feststellungsklagen hinaus auch zum Beispiel über eine typisierende Erledigung von Leistungsklagen nachzudenken. Spätestens wenn die „Telekom-Klagen“ als Leistungsklagen vor dem Landgericht Frankfurt fortgeführt werden, erfordert eine spürbare Justizentlastung wieder ein legislatives Handeln.
75. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und der Präsidentin des Bundesgerichtshofs, 15. bis 17. Mai 2023
Im Mittelpunkt der Diskussionen stand auch der Umgang mit zivilprozessualen Massenverfahren. Eine Arbeitsgruppe „Zivilprozess der Zukunft“ soll dazu und anderen wesentlichen Themen Vorschläge entwickeln und in den notwendigen Reformprozess einbringen.
Dieser Gesetzentwurf zum KapMuG enthält keine innovativen Ideen, deren Praxistauglichkeit diese Arbeitsgruppe auswerten könnte.
Pressemitteilung Nr. 77 / 2023 des BMJ „Schnellere Musterverfahren bei Anlegerschäden“
In dieser Pressemitteilung vom 28. Dezember 2023 erklärt Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann zum veröffentlichten Referentenentwurf:
Der Referentenentwurf untersucht nicht, ob und in welchem Umfang der gegenwärtige Rechtsstand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu überlangen Verfahrensdauern entspricht. Es gibt jedenfalls eine ganze Reihe von Verfahren, bei denen bis zur Auszahlung des Schadensersatzes deutlich mehr als zehn Jahre vergehen. Bei den „Telekom-Klagen“ könnten bis zur Erledigung der letzten Leistungsklage mehr als dreißig Jahre vergehen.
Daher spricht auch diese Vorgabe dafür, sich zum Beispiel über die Aufnahme der Leistungsklage in das KapMuG Gedanken zu machen. Außerdem könnte eine Verlängerung von Antragsfrist und Verjährung bis zum Abschluss des Verfahrens die Vergleichsbereitschaft fördern.
Anmerkungen zum Referentenentwurf:
Der Referentenentwurf trägt wenig dazu bei, den kollektiven Rechtsschutz auszubauen. Genau das verlangt aber der Koalitionsvertrag auf Seite 84 (Fassung der SPD).
Das zeigt sich besonders deutlich an diesen wesentlichen Punkten:
- Die Änderungen beschränken sich im Wesentlichen auf reine Rechtstechnik. Häufig beschränken sie den Rechtsrahmen für Anleger.
- Die Begründung setzt sich ersichtlich nicht mit den hier unter III. genannten wesentlichen Diskussionsbeiträgen auseinander. Wenigstens die beiden vom 72. DJT gefassten Beschlüsse hätten reflektiert werden können.
- Eine wesentliche Justizentlastung tritt erst dann ein, wenn die Leistungsklage in den Anwendungsbereich einbezogen wird.
- Sie kommt in der Gerichtspraxis deutlich häufiger vor als die Feststellungsklage. Die „Telekom-Klagen“ müssen demnächst vom Landgericht Frankfurt und den Folgeinstanzen als Leistungsklage einzeln verhandelt werden. Angesichts der meist identischen Sachverhalte – Kauf auf der Grundlage von Zeichnungsunterlagen des Emittenten – bieten sich zusammenfassende Typisierungen an. Das gilt auch für die Zeitschiene. Dieser Rechtsstand führt für die Landgerichte zu einem erheblichen und vermeidbaren Mehraufwand.
- Mit den noch anstehenden Leistungsklagen zeichnet sich eine überlange Verfahrensdauer von durchaus etwa dreißig Jahren bis zur letztinstanzlichen Entscheidung aller Klagen ab. Das ist nicht verfassungskonform, siehe z.B. BVerfG – Beschluss vom 2. Dezember 2011 – 1 BvR 314/11.
- Die Tagungen der Gerichtspräsidenten (LG / OLG) haben mit deutlichen Worten eine Justizentlastung gefordert. Diese Forderung haben auch weitere Gerichtspräsidenten in ihren Jahrespressegesprächen erhoben. Daher hätte bei den Ausführungen zu den Gesetzesfolgen auf den Seiten 26 ff. ausführlich reflektiert werden müssen, warum jetzt die Leistungsklage nicht einbezogen wird.
- Rechtsbruch darf sich nicht „rechnen“. Daher spricht einiges dafür, dass die Antragsfrist bzw. die Verjährung erst dann endet bzw. eintritt, wenn die Klageverfahren rechtskräftig beendet sind. Das dürfte die Vergleichsbereitschaft der Beklagten fördern.
- Auch an dieser Stelle kann auf die „Telekom-Klagen“ und den Rechtsstand in den USA verwiesen werden. Mit den Anwalts- und Gerichtskosten steigen die Kosten für die Beklagten. Ein früher Vergleich wäre für die Deutsche Telekom AG deutlich günstiger gewesen.
- Erfreulicherweise wird der Anwendungsbereich auf weitere gesetzliche Informationen ausgedehnt. Es spricht aber einiges dafür, die Haftung auf alle gesetzlichen Regelinformationen auszudehnen, die typischerweise Investitionen oder Deinvestitionen zugrunde gelegt werden können. Entsprechendes könnte bei börsennotierten Emittenten auch für Informationen auf der Grundlage der Zulassungsfolgepflichten gelten.
- Der anwaltliche Vertreter des bzw. der Musterkläger trägt nicht nur eine erhebliche Verantwortung. Auf ihn kommt auch viel Arbeit zu. Dagegen dürften in den meisten Fällen die Vertreter der Musterbeklagten auf Stundenbasis abrechnen. Der Grundsatz der Waffengleichheit sowie die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen zum Rechtsstaatsprinzip verlangen eine Anpassung der Vergütung für die Anwälte der Musterkläger. Möglicherweise bietet es sich an, hier wie bei Sachverständigen für jeden Verfahrensabschnitt eine eigene Pauschalvergütung festzusetzen.
- Außerdem ist eine Deckelung der Kostenerstattung für die Vertreter der Beklagten zu deckeln. Bei den „Telekom-Klagen“ lässt das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) gegenwärtig noch eine Abrechnung von allen 16.000 Klagen einzeln zu. So viel ist für eine kostendeckende Verfahrensführung nicht erforderlich.
- Gerade im Aktien- und Kapitalmarktrecht besteht ein strukturelles Informationsgefälle zwischen Anleger und Emittenten. Das führt auch zu prozessualen Asymmetrien. Die verfassungsmäßigen Gewährleistungen lassen das nicht zu. Dennoch fehlen im Gesetzentwurf Überlegungen, wie das hier nivelliert werden kann. Dazu hätte zum Beispiel im Hinblick auf das Fristengefüge oder die Darlegungslasten auf die Möglichkeit eines Kennen bzw. Kennenmüssens abgestellt werden können.