Die Insolvenz der Wirecard AG stellt die regulatorischen Rahmenbedingungen und den Rechtsschutz für Investoren auf den Prüfstand. Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen zum Rechtsstaatsprinzip sowie Justizgewährleistungsanspruch und Aktieneigentum verlangen nach einem umfassenden Rechtsschutz. Das umfasst neben der Präventivfunktion auch Ansprüche auf Schadensersatz. Bei Wirecard wird sich zeigen, dass es diesen Rechtsschutz gegenwärtig nicht gibt. Schon jetzt zeichnet sich der folgende Handlungsbedarf für den Rechtsschutz von Anlegern ab:
- Umfassende Kontrolle bei Verdachtsfällen durch die BaFin oder andere Behörden mit drittschützender Funktion = Reform des § 4 Abs. 4 FinDAG
- Funktion und Rechtsrahmen für die Wirtschaftsprüfung anpassen
- Zugang zu Beweismitteln für Anleger = § 321a HGB erweitern und das strukturelle Informationsgefälle zwischen Emittent und Anleger abbauen
- Drittschützende Normengefüge bzw. handhabbare Anspruchsgrundlagen
- Angemessene Verjährungsfrist
- Anpassung des Haftungsrahmens an mögliche Schäden, zum Beispiel in § 323 Abs. 4 HGB.
- Effektiver Kollektiver Rechtsschutz: Leistungsklage, keine Verbandsklage
- Umfassende Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit von Finanzmarktinformationen auf Schadensersatz (Vorstandshaftung sowie Haftung von Aufsichtsrat und Emittenten) sowie im Strafrecht und nicht nur als Ordnungswidrigkeit. Ein Beitrag im Handelsblatt vom 24.07.2020 zeigt, welche weiteren geradezu grotesken Aussagen zur weiteren Entwicklung von Markus Braun in öffentlichen Auftritten gemacht hat.
Die Bundesregierung und die Bundestagsparteien sprechen sich im Sommer 2020 für einen umfassenden Neuanfang aus. Das muss deutlich über den Einzelfall hinausgehen. So zeigt eine Erhebung von Sven Giegold (MdEP B90/Grüne), dass die BaFin 71 Finanzskandale nicht aufgedeckt hat (Stand: Ende Juli 2020). Dazu ist folgendes anzumerken:
- Bundesfinanzminister Olaf Scholz war im Gesetzgebungsverfahren für das „Gesetz zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen (Bilanzkontrollgesetz – BiKoG„ im Jahr 2004 Berichterstatter (BT-Drucksache 15/4055). Wird er seine Einschätzungen aus diesem Gesetzgebungsverfahren ändern?
- Auch das „Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht“ (BT-Drucks 14-8389 Beschlussempfehlung) aus 2002 müsste einmal gründlich auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls an den bestehenden Regelungsbedarf angepasst werden.
- Herr Prof. Dr. Markus Peter Hommelhoff erklärt in der Jubiläumsbroschüre „10 Jahre Bilanzkontrolle in Deutschland (2005 bis 2015) DPR-REP„, warum in Deutschland ein Weg der Selbstkontrolle zunächst ohne Zwangsmittel gegangen wird. Wird sich die „Wissenschaft“ von diesem Weg abwenden und Überlegungen zu einer öffentlichen Daseinsvorsorge mir präventiven und regressiven Eingriffen sowie einem effektiven Anlegerschutz zuwenden?
- Trotz der offenen Fragen zu Wirecard arbeitet EY weiterhin für Konzerne mit Bundesbeteiligung als Abschlussprüfer, zum Beispiel für die Deutsche Telekom. Das Handelsblatt sieht am 28.07.2020 die Verantwortung dafür vor allem bei Olaf Scholz sowie dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) Signalisiert man so Veränderungsbereitschaft? (Nur zur Erinnerung: Eine im Juni 2020 abgegebene „Audit Opinion“ von EY hält einer Prüfung nicht stand. FT 23.07.2020: „EY prepared unqualified audit for Wirecard in early June“)
- Im Abrechnungschaos nach der Lieferung von Masken unterstützt EY (Bild am 10.07.2020: ohne Ausschreibung und für 9,5 Millionen Euro) das Bundesministerium für Gesundheit und Jens Spahn. Gab es keine anderen Beratungsgesellschaften bzw. Dienstleister?
- Ende Juli musste die BaFin Falschinformationen im Finanzausschuss des Bundestags durch den Behördenchef Felix Hufeld zur Zusammenarbeit mit der Polizei in Singapur einräumen. Gab es personelle Konsequenzen und ist das Transparenz?
- Man muss auch noch abwarten, ob und in welchem Umfang einzelne Politiker gegenüber den einschlägigen Verbänden wie zum Beispiel der Wirtschaftsprüfer äußern. (Handelsblatt 16.07.2020 – Wirtschaftsprüfer und Aufsicht: Mühsame Debatte über Reformen)
- In anderen Ländern geht man substantiierten Hinweisen von Leerverkäufern und anderen Aktionären nach. Ein gutes Beispiel kommt aus China: Etwa drei Monate nach einem Bericht von Muddy Waters Research zu Luckin Coffin Inc. fanden interne Untersuchungen vorgetäuschte Umsätze in der Höhe von 310 Mio US $. Der Chairman der China Securities Regulatory Commission Ci Huiman reagierte in einem Interview am 24.Juni 2020 mit deutlichen Worten. Schon am 06.04.2020 gab es ein deutliches Statement:
CSRC’s statement on Luckin Coffee’s accounting misconduct
06-04-2020
- In China gibt es jetzt auch Sammelklagen für Anleger.
- Unsere weiteren Überlegungen zu Wirecard finden Sie auf den folgenden Seiten: