Gesetzgebungsverfahren

Ausgangslage

Die „Frosta-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 08.10.2013 – II ZB 26/12) hat die bisher geltenden Grundsätze der „Macrotron-Entscheidung“ (BGH, Urteil vom BGH 25.11.2002 – II ZR 133/01) geändert. Nach „Frosta“ muss den außenstehenden Aktionären kein Übernahmeangbot mehr unterbreitet werden, dass im Spruchverfahren gerichtlich zu überprüfen war. Außerdem entfällt der Hauptversammlungsbeschluss.

Damit trat das Delisting aus seinem Randdasein, es kam es seit Ende 2013 zu einem Boom. Bei mehr als fünfzig Gesellschaften nutzten die Großaktionäre den Verkaufsdruck, den die Ankündigung eines Delistings auslöst. Immerhin kam es bei 81,58 % aller Gesellschaften zu Kursverlusten, die im Durchschnitt bei 16,12 % lagen. Vergleicht man die volumengewichteten Schlusskurse seit der Delisting-Ankündigung mit dem letzten Schlusskurs davor, ergibt das einen nicht realisierten Gesamtbetrag in der Höhe von EUR xx Mio. Berücksichtigt man dabei die weitere Entwicklung des S-DAX, handelt es sich um EUR xx Mio.

Nach massiver Kritik von Anlegerverbänden und in der Presse setzte die SPD (Berichterstatter: Christian Petry) (Presseerklärung „aus dem Regierungsbündnis“ vom 21.9.2015) durch, dass nun in jedem Fall ein Übernahmeangebot zu machen ist. Die Gegenleistung soll auf der Grundlage von des Börsenkurses im Zeitraum von sechs Monaten vor der Ankündigung ermittelt werden.(Zusammenfassung von Dow-Jones / Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses vom 30.09.2015 / Plenarprotokoll 18/127 vom 01.10.2015)

Die VzfK bleibt bei ihrer Kritik: „Die geplante Delisting-Gesetzgebung bleibt auch nach der angekündigten Änderung ein Sparprogramm mit Turbo für den Großaktionär. Großaktionäre können damit schneller und billiger die Aktien der anderen Aktionäre übernehmen, um die Mehrheit für andere Strukturmaßnahmen wie eine Unternehmensvertrag oder einen Squeeze-out zu erreichen.“

Kritikpunkte

Auch nach dem Änderungsvorschlag vom 21.09.2015 stellt sich das Gesetzgebungsvorhaben als Schnellschuss dar. Zwar wird nun richtigerweise ein Angebot an die Aktionäre verlangt. Dennoch unterläuft der Gesetzesvorschlag vielfach das bisherige Regelungssystem im Aktien- und Übernahmerecht, wofür es keine wissenschaftlichen Vorarbeiten gibt.

Das gilt vor allem für folgende Punkte:

1.    Der Gesetzentwurf lehnt sich an die Regelungen im Wertpapierübernahmegesetz an. Nach § 33 WpÜG besteht eine Neutralitätspflicht des Vorstands. Außerdem haben Vorstand und Aufsichtsrat nach § 27 WpÜG für die übrigen Aktionäre eine begründete Stellungnahme zur Angemessenheit der Abfindung abzugeben.

  • Im Regelungsentwurf bleibt völlig offen, was den Vorstand dazu veranlasst, den Antrag auf Widerruf der Börsenzulassung zu stellen.
  • Weil auch kein Gutachten zum Ertragswert vorliegt, fehlt ihm die Grundlage zur Beurteilung der Angemessenheit der Abfindung.

2.    Das Aktiengesetz verpflichtet den Vorstand dazu, die Gesellschaft in eigener Verantwortung zu leiten und die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden.

  • Wie aber soll er sich verhalten, wenn er – entgegen den Vorstellungen eines Großaktionärs – eine weitere Börsennotierung für sachgerecht oder
  • das Angebot nicht für angemessen hält?

3.    Völlig unklar ist, wer das Abfindungsangebot unterbreitet. Davon hängt ab, welche weiteren Anforderungen aus dem AktG oder WpÜG zu beachten sind. 

  • Angebote der Gesellschaft selbst begrenzt § 71 AktG z.B. auf höchstens 10 % der eigenen Aktien. Offen bleibt daher, wer das Angebot bei größerem Streubesitz zu unterbreiten hat.
  • Kommt das Angebot von einem Großaktionär müssen die Abgrenzungen zwischen der Gesellschaft und dem Bieter aus dem WpÜG Beachtung finden.
  • Das gilt auch dann, wenn die von der Gesellschaft erworbenen Aktien an den bzw. einen von mehreren Großaktionären weitergeleitet wird.

4.    Der Börsenkurs der Vergangenheit steht in keinem Zusammenhang mit dem inneren Wert eines Investments. Denn dieser bestimmt sich aus den zu erwartenden zukünftigen Zahlungsströmen bzw. dem Zukunftserfolgswert.

  • Der Zukunftserfolgswert lässt sich aber nur mit einer Unternehmensbewertung auf der Grundlage des Ertragswertverfahrens ermitteln.
  • Für die Vergangenheit – z.B. durchschnittliche Börsenkurse der letzten drei oder sechs Monate – zahlt der Kaufmann nichts.
  • Die Börsen können diesen Wert nur reflektieren, wenn sie die Unternehmensbewertung kennen. Erst dann kann der Referenzzeitraum beginnen.

5.    Auch die weiteren Überlegungen zu Maßnahmen bei „falschen Ad-hoc-Mitteilungen“ oder Kursmanipulation überzeugen nicht.

  • Sie reflektieren nicht die vielfältigen Wege einer schleichenden Kapitalmarkt(fehl)information, mit denen die Kurse vor dem drei- oder sechsmonatigen Referenzzeitraum beeinflusst werden können.
  • Außerdem ist zumindest hier kein Fall bekannt, in dem eine zuständige Stelle rechtssicher Kursmanipulationen festgestellt hat. (Noch nicht einmal die Insidergeschäfte, zu denen es immer wieder im Vorfeld der Bekanntgabe von Strukturmaßnahmen kommt, werden umfassend untersucht.

6.    Für 51 Delistings nach der „Frosta-Entscheidung sowie 397 Spruchverfahren nach einem Squeeze-out in den Jahren 2002 bis 2013 haben wir empirische Daten erhoben. Sie zeigen für auch, dass ein öffentliches Übernahmeangebot nicht ausreicht. Das hier bestehende Regelungskonzept verlangt auch beim Delisting ein Gutachten nach dem Ertragswertverfahren mit anschließendem Ertragswertverfahren:

  • In 60 % der Fälle lag die – gleichermaßen wie jetzt im Gesetzesvorschlag berechnete – Gegenleistung in vorangegangenen Übernahmeangeboten unter der Abfindung beim nachfolgenden Squeeze-out. Soweit bis heute das Spruchverfahren abgeschlossen ist, erhöht sich die Quote sogar auf 75 %.
  • Der Unterschied zwischen der Gegenleistung im Übernahmeangebot und der Abfindung im Squeeze-out lag bei 16,82 %. Nach einem Spruchverfahren waren das sogar 29,13 %.
  • Dabei handelt es sich um beachtliche Gesamtbeträge: Aktionären, die das Übernahmeangebot angenommen haben, sind gegenüber der Abfindung beim Squeeze-out EUR 250 Mio. entgangen. Dieser Betrag erhöht sich auf EUR 450 Mio., wenn man auf die bereits abgeschlossenen Spruchverfahren abtstellt.

7.    Unsere Daten zeigen auch, dass es in fast allen Spruchverfahren zu Anhebungen der Abfindung gegenüber dem Angebot des Hauptaktionärs kommt. Außerdem stellt das Spruchverfahren nach der faktischen Abschaffung der Beschlussmängelkontrolle im Aktienrecht den letzten Rechtsbehelf für den Aktionär dar.

  • Daher wäre es systemwidrig und für die außenstehenden Aktionäre nachteilig, hier auf ein Spruchverfahren zu verzichten.
  • Außerdem spricht vor allem im Kapitalmarktrecht alles dafür und nichts dagegen, den kollektiven Rechtsschutz auszubauen.

8.    Die Ankündigung eines Delistings führt zu einem faktischen, freiwilligen Squeeze-out:

  • Die meisten institutionellen Anleger – also Fonds – dürfen nur in Aktien investieren, die an einer Börse handelbar sind, müssen also bei einem Delisting deinvestieren.
  • Andere Aktionäre fürchten den faktischen Wertverlust, wenn sie ihre Aktien nicht mehr verkaufen können.

9.    Im wirtschaftlichen und rechtlichen Ergebnis stehen die Aktionäre nach einem Delisting wie nach einer Verschmelzung bzw. Eingliederung da:

  • Sie sind zwar wirtschaftlich noch Eigentümer, haben aber – da es praktisch keine Unternehmensinformationen und wertgerechten Veräußerungsmöglichkeit mehr gibt – nur noch eine stark reduzierte Verfügungsmacht über ihren Anteil.
  • Daher muss ein vergleichbarer, umfassender Rechtsrahmen/-schutz geschaffen werden, der einen wertgerechten Ausstieg ermöglicht.

10.    Empirische Daten zum Delisting nach der „Frosta-Entscheidung“ zeigen die Bedeutung der Handelbarkeit einer Aktie.

  • In 81,58 % aller Fälle ist der Kurs nach Ankündigung eines Delistings gefallen. Insgesamt betrugen die Kursverluste im Durchschnitt 16,12 %.
  • Die grundrechtsrelevanten Eingriffe traten im Schutzbereich der Aktie ein. Das verlangt nach einer Regelung im Aktiengesetz, wenigstens aber im Spruchverfahrensgesetz.

11.    Völlig unklar sind weitere, vor allem rechtstechnische Fragen, wie z.B. eine etwaige Rückwirkung der Neuregelung des Delistings auf bereits gestellte Delisting-Anträge.

Regelungsvorschlag

Das führt zu einem umfassenden Regelungsbedarf, dem vorliegende Gesetzesentwurf erkennbar nicht entspricht:

1.    Regelungsort und Regelungstiefe 

Die vorgeschlagenen Änderungen und Ergänzungen im Börsengesetz und der WpÜG-Angebotsverordnung entsprechen mehrfach nicht dem Eingriff in den Schutzbereich des Aktieneigentums.

  • Diese Gesetze enthalten Regelungsgefüge, die in der Regel den Anleger nicht in den Schutzbereich der Norm aufnehmen. Die hohe Grundrechtsrelevanz verlangt aber nach Regelungen im Aktiengesetz oder seinen Nebengesetzen.
  • Außerdem verlangt das Verfassungsrecht nach effektivem Rechtsschutz. Dieser kann – wie schon auf der Grundlage der „Macrotron-Entscheidung“ des BGH – nur im Spruchverfahren gewährleistet werden.

2.    Einfügung in das Übernahmerecht 

Die Entscheidung des Vorstands, ein Delisting zu beantragen, muss auf eine klare Grundlage gestellt werden.

  • Es muss für den Anleger erkennbar sein, ein Delisting im Interesse der Gesellschaft erfolgt oder ob es dem Großaktionär dient, damit dieser unter dem Verkaufsdruck außenstehender Aktionäre weitere Aktien erwerben kann.
  • Falls das Interesse des Großaktionärs im Vordergrund steht, muss der Vorstand – wie im WpÜG – geschützt werden. Er muss auch weiterhin als Sachwalter der Interessen aller Aktionäre eine neutrale Stellungnahme auf der Grundlage eines Ertragswertgutachtens zur Höhe der Abfindung abgeben können.
  • Falls das Interesse der Gesellschaft im Vordergrund steht, müssen vor allem die aktienrechtlichen Voraussetzungenbeachtet werden. Es dürfen also z.B. nicht mehr als 10 % der Aktien erworben werden und es müssen die erforderlichen Beschlüsse vorliegen.

3.    Einfügung in das Aktienrecht 

Da die Grundrechtswirkungen die Aktie treffen, spricht alles für eine Regelung im Aktienrecht und im Spruchverfahrensgesetz:

  • Wie bei allen anderen kompensationspflichtigen Strukturmaßnahmen muss eine Mindestbeteiligungsquote bestehen, wenn das Verlangen nach einem Delisting von einem Hauptaktionär ausgeht. Das können wie bei einer Verschmelzung oder einem Unternehmensvertrag 75 % sein, aber auch 90 % oder 95 % wie bei einem Squeeze-out.
  • Das Verfahren leitet der Rechtsakt ein, der den Vorstand zur Stellung eines Antrags bei der Börse veranlasst. Das kann neben der Aufforderung durch einen Großaktionär auch die Entscheidung des Vorstands mit Zustimmung des Aufsichtsrats sein. Wegen der Relevanz für die Aktionäre müsste eigentlich die Hauptversammlung zustimmen. Das gilt vor allem für die Fälle eines höheren Streubesitzes, der nicht im Aufsichtsrat vertreten ist.
  • Den Aktionären ist der „wahre“ Wert ihrer Beteiligung, ermittelt z.B. auf der Grundlage eines Ertragswertgutachtens, auszugleichen.
    • Das kann die Aufforderung eines Großaktionärs sein, aber auch
    • die Entscheidung des Vorstands. Wegen der Bedeutung der Handelbarkeit sollte sie unter dem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats stehen.
    • Der Beschluss einer Hauptversammlung erhöht neben der formalen Rechtssicherheit auch die Transparenz.
  • Die Unternehmensbewertung muss in einem Spruchverfahren überprüfbar sein, was in § 1 Sprucherfahrensgesetz aufzunehmen ist.
  • Das Gesetz hat eine Rückwirkung auch für die Verfahren zu regeln, bei denen der Antrag am Tag der Einleitung des Gesetzgebungsvorhabens noch nicht gestellt war bzw. der Widerruf noch nicht wirksam war.
  • Außerdem muss es für die einzelnen Börsen möglich sein, den Schutz der Aktionäre auszubauen.